Value-Aktien: Attraktiv auch bei fallenden Zinsen?
Value Investing gilt als wirksame Strategie in Zeiten steigender Zinsen – und als weniger vorteilhaft, wenn die Zinsen fallen. Angesichts wohl weiter sinkender Zinsen in den USA und Europa steht deshalb die Frage im Raum: Stehen Value-Investoren jetzt schwierige Zeiten bevor? Die Antwort: Eher nicht.
Value-Investing bezeichnet die Strategie, bei der Anleger nach unterbewerteten Aktien suchen, also Aktien, die ihrer Ansicht nach unter dem fairen Wert gehandelt werden. Im Grunde geht es darum, etwas für weniger zu kaufen, als es wert ist. Typischerweise handeln Aktien mit geringeren Erwartungen an die zukünftige Entwicklung zu niedrigeren Bewertungsmultiplikatoren als der Gesamtmarkt, weshalb sie als Value-Aktien gelten. In der Kapitalmarktforschung werden Value-Aktien meist als Titel mit niedrigem KGV (Kurs-Gewinn-Verhältnis) oder KBV (Kurs-Buchwert-Verhältnis) definiert. Die Mitglieder eines Aktienindex wie des S&P 500 werden anhand solcher Bewertungsmultiplikatoren sortiert. Die günstigsten Aktien gelten als Value-Werte, die teuersten als Wachstumsaktien.
Die Theorie besagt, dass steigende Zinsen schlecht für Aktien und besonders für Wachstumswerte sind. Grund: Mit höheren Zinsen sinkt der Barwert zukünftiger Erträge. Da ein größerer Teil der Gewinne von Wachstumsunternehmen in ferner Zukunft erwartet wird, leiden sie stärker unter steigenden Zinsen. Value-Aktien sollten daher in Phasen steigender Zinsen besser abschneiden als Wachstumstitel. Doch die Realität ist komplexer, als die Theorie vermuten lässt.
2023 sorgte für eine Überraschung. Trotz kräftig gestiegener Zinsen schnitten Wachstumswerte deutlich besser ab als Value-Werte. So lag der S&P 500 Growth Index mit einer Outperformance von 7,8 % über dem S&P 500 Value-Index. Vertreter der Zinshypothese argumentieren, dass dies vor allem auf die „Magnificent 7“ zurückzuführen sei – die Techgiganten Apple, Microsoft, Amazon, Nvidia, Meta, Tesla und Alphabet. Ohne diesen Sondereffekt, so die Annahme, würde die Theorie der Zinsauswirkungen auf Value- und Wachstumstitel weiter gelten.
Doch ein Blick auf historische Daten zeigt, dass Zinsen allein nicht die Performance von Value- und Wachstumstiteln bestimmen. Die Analyse eines US-Vermögensverwalters betrachtete zwölf Perioden steigender und elf Perioden fallender Zinsen seit 1954. In zehn der zwölf Phasen steigender Zinsen entwickelten sich Value-Aktien wie erwartet besser als Wachstumstitel. Überraschend ist jedoch, dass der Value-Ansatz auch in neun von elf Phasen fallender Zinsen überlegen war. Dies widerspricht der gängigen Theorie und zeigt, dass Zinsänderungen allein kein verlässlicher Indikator für die relative Performance von Value-Aktien sind.
Warum hält sich die Theorie dennoch so hartnäckig? Vermutlich liegt das an der jüngeren Vergangenheit. Seit der Finanzkrise liefen Wachstumswerte deutlich besser als Value-Titel. Dieser Zeitraum war durch niedrige und oft fallende Zinsen geprägt und dürfte Anlegern viel stärker in Erinnerung geblieben sein als weiter zurück liegende Börsenphasen. Auch eine Studie aus den USA zeigt, dass der Zusammenhang zwischen Zinsbewegungen und der relativen Performance von Value- versus Growth-Aktien schwach und instabil ist. Der Grund dafür sei, dass die am Markt erwarteten Wachstumsraten für Growth-Aktien oft zu optimistisch sind und in der Realität langfristig nicht signifikant höher ausfallen als bei Value-Aktien. Für die tatsächliche Entwicklung von Value- und Wachstumsaktien sind die Unternehmensdaten, Wachstumspotenzial, Marktpsychologie und das konjunkturelle Umfeld wichtiger als bloße Zinsveränderungen.
Für Anleger zeigt sich: Ein ausgewogenes Portfolio sollte in jeder Marktphase einen Anteil an Value-Aktien enthalten, auch wenn deren Popularität in den letzten Jahren abgenommen hat. Das langfristige Potenzial des Value-Investing bleibt intakt. Welcher Zeitraum für Value-Aktien günstig ist, lässt sich nicht zuverlässig vorhersagen. Tatsache ist aber, dass Value-Titel aufgrund der jahrelangen Outperformance der Wachstumswerte momentan relativ günstig bewertet sind. Sollten sich diese Bewertungsdifferenzen wieder normalisieren, könnte die Performance von Value-Aktien die der Wachstumstitel längerfristig übertreffen. Anleger sollten daher sicherstellen, dass Value-Werte in ihrem Portfolio angemessen vertreten sind. Möglicherweise steht tatsächlich ein Comeback des Value-Investing bevor – nicht trotz, sondern gerade wegen sinkender Zinsen.