Seit Gründung der Europäischen Zentralbank (EZB) im Jahr 1998 sah diese sich immer wieder dem Vorwurf ausgesetzt, ihre Befugnisse zu überschreiten. Bei all ihren Entscheidungen und Handlungen muss ihr der Spagat zwischen Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht gelingen, die Grenzen sind oftmals fließend. Deshalb gibt es auch seit jeher Bedenken hinsichtlich ihrer Unabhängigkeit und der vermeintlich unzureichenden Rechenschaftspflicht. Darüber hinaus werden Debatten geführt, dass es den Entscheidungsprozessen der EZB an Transparenz mangelt, insbesondere in Bezug auf ihre Kommunikationsstrategien und ihre Struktur.
Zentralbanken konnten nicht immer selbstständig agieren. In Deutschland und anderen Ländern machte man jedoch die Erfahrung, dass es unabhängigen Zentralbanken besser gelingt, die Inflation niedrig zu halten. Deshalb erhielt die EZB nach den EU-Verträgen von 1992 ein hohes Maß an politischer Unabhängigkeit. Ihre Entscheidungen zur europäischen Geldpolitik können nicht von nationalen Regierungen oder anderen europäischen Institutionen kontrolliert werden. Die Änderung ihres Mandats ist nur durch einstimmige Zustimmung aller EU-Mitgliedsstaaten möglich. Aufgabe der EZB ist es, Währungspolitik zu betreiben, kurz: eine stabile Währung mit stabilen Preisen zu gewährleisten. Wirtschaftspolitik hingegen ist die vorrangige Aufgabe der Mitgliedsstaaten. Die Geldpolitik der EZB soll das wirtschaftliche Wachstum in Europa stärken und Arbeitsplätze schaffen. Außerdem darf die EZB kein Kreditgeber für Mitgliedsstaaten sein.
Als Gegengewicht ist die EZB dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat rechenschaftspflichtig. In der Praxis bedeutet dies, dass die EZB ihre Entscheidungen vor dem Europäischen Parlament und den Bürger:innen selbst ihre Beschlüsse sowie die zugrunde liegenden Erwägungen begründen und erläutern muss. Dies erfolgt unter anderem durch regelmäßig stattfindende Anhörungen, Wirtschaftsberichte, den Jahresbericht, Pressekonferenzen und schriftliche Anfragen.
Der Europäische Gerichtshof kann eingreifen, falls die EZB ihr Mandat überschreitet, und hat dies bereits getan, beispielsweise beim Thema Anleihekäufe. Mit den im Jahr 2012 angekündigten umfangreichen Anleihekaufprogrammen hat die EZB indirekt eine fiskalpolitische Rolle übernommen, die möglicherweise mit dem Verbot des Maastricht-Vertrags, dass sich Regierungen zur Finanzierung öffentlicher Ausgaben Geld bei der Zentralbank leihen, kollidiert. Der EuGH hat in einem Urteil vom Juni 2015 jedoch entschieden, dass das angekündigte Outright Monetary Transactions Programme (OMT) aus seiner Sicht nicht gegen Europarecht verstößt. Die Europäische Zentralbank darf also Staatsanleihen von kriselnden Euroländern kaufen. Der Kauf wurde an die Einhaltung bestimmter Bedingungen gebunden.
Im Mai 2020 hat das Bundesverfassungsgericht das 2015 gestartete milliardenschwere Anleihe-Ankaufprogramm Public Sector Purchase Programme (PSPP) in Teilen für verfassungswidrig erklärt. Begründung: Das Vorgehen und insbesondere die Verhältnismäßigkeit der geldpolitischen Mittel seien von der EZB nicht ausreichend geprüft worden. Die Bundesbank durfte deshalb nicht weiter an der Umsetzung des EZB-Aufkaufprogramms mitwirken und Bundesregierung und Bundestag sollten darauf hinwirken, dass die EZB nachträglich prüft, ob die Käufe verhältnismäßig seien. Eine heikle Situation, denn damit setzte sich das deutsche Verfassungsgericht über ein EuGH-Urteil hinweg, obwohl Entscheidungen des obersten EU-Gerichts für alle Mitgliedsstaaten verbindlich sind. Die EU-Kommission stellte jedoch das Vertragsverletzungsverfahren gegen die Bundesrepublik ein, nachdem sie erklärte, dass es den Vorrang des EU-Rechts anerkennt.
Wie jede Institution wird auch die EZB immer Gegenstand von kontroversen Debatten sein. Es wird ihr kaum gelingen, bei jeder Entscheidung die Interessen aller Mitgliedsstaaten und deren Bürger:innen gleichermaßen zu vertreten. Einerseits erfordert die erweiterte geldpolitische Rolle der EZB eine immer umfassendere Kontrolle und parlamentarische Debatte, andererseits hängt die Qualität der Rechenschaftspflicht von der Expertise und den Interessen der Beteiligten ab. Geht man von ihrem vorrangigen Ziel aus, die Preisstabilität im Euroraum zu gewährleisten, muss man anerkennen, dass der Euroraum seit Gründung der EZB und bis zum Ausbruch des Ukraine-Kriegs relativ niedrige und stabile Inflationsraten verzeichnete. Die vorsichtigen, aber konsequenten Zinserhöhungen seit letztem Sommer haben außerdem gezeigt, dass die EZB durchaus ihr Handwerk versteht.