Geld an der Seitenlinie: Eine Analogie, die in die Irre führt

Kaum ein Börsenmythos ist so langlebig wie die Behauptung: „Es liegt so viel Geld an der Seitenlinie – wenn es in den Markt fließt, steigen die Kurse.“ Was plausibel klingt, ist in Wahrheit ein Trugschluss. Denn an der Börse existiert keine „Seitenlinie“, von der Kapital einfach in den Markt strömen könnte. Warum dieses Bild irreführend ist und weshalb hohe Bargeldbestände keineswegs eine Garantie für steigende Kurse darstellen, wird in diesem Beitrag erläutert.
An der Börse ist jeder Kauf ein Tauschgeschäft. Für jeden Käufer gibt es einen Verkäufer. Wenn Herr Müller 10.000 Euro für 200 Siemens Aktien bezahlt, erhält Frau Schmidt genau diese 10.000 Euro und hält nun Cash (liquide Mittel) statt der Aktien. Das Geld verlässt den Markt nicht und es kommt auch kein neues hinzu, es wechselt lediglich den Besitzer. Die Gesamtanzahl aus Aktien und liquiden Mitteln bleibt unverändert.
Die oft bemühte Seitenlinien-Analogie ist im Kern nicht falsch, wird aber häufig missverstanden. Stellen Sie sich ein Fußballspiel vor: Die Spieler auf dem Feld sind die Aktien, die Ersatzbank (Seitenlinie) die liquiden Mittel. Kommt ein Ersatzspieler aufs Feld, muss ein anderer runter. Die Mannschaft auf dem Platz besteht weiterhin aus elf Spielern. Die Gesamtzahl aus Spielern und Ersatzspielern bleibt gleich. Genauso an der Börse. Für jeden, der ins Spiel kommt (Aktien kauft), geht jemand anderes vom Feld (verkauft Aktien) und nimmt das Geld mit. Das Geld bleibt also immer an der Seitenlinie. Tatsächlich gelangt neues Geld nur dann in den Markt, wenn neue Aktien ausgegeben werden (z. B. bei Börsengängen) oder umgekehrt durch Aktienrückkäufe verschwindet. Für den täglichen Handel gilt: Es gibt keine Seitenlinie, von der zusätzliches Geld in den Markt strömen kann.
Als Beleg für das an der Seitenlinie wartende Geld wird oft auf die gigantischen Summen in Geldmarktfonds verwiesen. In den USA sind es aktuell rund 7,3 Billionen US-Dollar, ein Rekordwert (siehe Chart). Viele Anleger interpretieren das als Pulver, das nur darauf wartet, in Aktien investiert zu werden. Doch das ist, wie gezeigt, nicht möglich.
Hinzu kommt: Diese Gelder stammen nicht primär aus Aktienverkäufen, sondern aus Bankeinlagen, die wegen höherer Zinsen in Geldmarktfonds umgeschichtet wurden. Unternehmen parken dort Liquidität, Privatanleger ihre Notgroschen. Wenn diese Gelder abfließen, dann meist in andere sichere Anlagen und nicht in Aktien. Oft hört man die Aussage: Bei so viel Geld an der Seitenlinie werden Rücksetzer begrenzt. Auch das ist ein Trugschluss. Hohe Geldmarktfondsbestände bedeuten nicht, dass Anleger bei Kursrückgängen automatisch kaufen. In Krisen steigt oft die Risikoaversion, dann bleibt das Geld lieber in sicheren Häfen wie Geldmarktfonds. Historisch gab es Crashs trotz hoher Liquidität, weil die Risikobereitschaft der Marktteilnehmer entscheidend ist.
Die Rolle der Geldmenge
Die Geldmenge M2 (Bargeld, täglich fällige Einlagen wie Girokonten sowie kurzfristige Spareinlagen) in den USA liegt mit über 22 Billionen Dollar auf einem Rekordniveau. Historisch steigen Aktienmärkte, Geldmenge und Geldmarktfondsbestände oft gleichzeitig. Warum? Weil sie von denselben Faktoren getrieben werden, insbesondere einer expansiven Geld- und/oder Fiskalpolitik. Hohe Geldmarktfondsbestände und eine wachsende Geldmenge sind daher kein „Geld an der Seitenlinie“, sondern ein Spiegelbild dieser Politik.
Jeder Dollar, den die Notenbank geschaffen hat, muss von jemandem gehalten werden, entweder als Bargeld, Bankeinlage oder in Form von Zentralbankreserven, bis die Notenbank ihn wieder einzieht. Dieses Geld wartet nicht darauf, in Aktien zu fließen. Es ist bereits im System verteilt.
Liquidität kann Bewertungen beeinflussen, weil Anleger bei niedrigen Zinsen eher risikoreiche Anlagen bevorzugen, aber nicht über zusätzliche Zuflüsse in den Aktienmarkt. Wenn mehr Anleger Aktien kaufen als verkaufen wollen, steigen die Preise, doch dasselbe Geld bleibt im Kreislauf und wechselt nur den Besitzer. Selbst wenn alle Anleger gleichzeitig Aktien kaufen wollten, gäbe es keinen Zufluss, sondern nur (stark) steigende Kurse. Jeder erfolgte Kauf hat weiterhin einen Verkäufer. Oder kurz zusammengefasst: Der Preis von Aktien ändert sich, nicht die Geldmenge im Markt. Das ist wie bei einer Auktion: Mehr Bieter treiben den Preis.
Fundierte Asset-Allokation bleibt Trumpf
Das Bild vom „Geld an der Seitenlinie“ mag populär sein, doch es greift zu kurz. Entscheidend für die Entwicklung der Aktienmärkte ist nicht, ob Geld „in den Markt fließt“, sondern ob Anleger bereit sind, für Qualität und Perspektive höhere Preise zu zahlen. Genau hier kommt die Rolle professioneller Vermögensverwalter ins Spiel: Sie analysieren Märkte, bewerten Chancen und Risiken und treffen aktive Entscheidungen darüber, welche Investments in einem sich wandelnden Umfeld sinnvoll sind.
Statt auf vermeintliche Liquiditätsreserven zu hoffen, sollten Anleger auf eine strategisch fundierte Asset-Allokation setzen – begleitet von erfahrenen Partnern, die den Überblick behalten und gezielt investieren. Denn nicht das Geld an der Seitenlinie bewegt die Märkte, sondern kluge Entscheidungen im Zentrum des Geschehens.