In den vergangenen Wochen blickte ganz Europa, vielleicht sogar die ganze Welt, auf die Europäische Zentralbank (EZB) und verfolgte mit Spannung, zu welchen Entscheidungen sie sich angesichts der aktuellen wirtschaftlichen Lage durchringen würde. Seit dem Jahr 2011 hat es keine Zinsanhebungen im Euroraum gegeben. Ganz im Gegenteil wurden im Jahr 2016 die Leitzinsen sogar auf null Prozent gesenkt. Doch nun ist die Zeit der Negativzinsen und Anleihekäufe vorbei. Am 9. Juni gab der EZB-Rat in Amsterdam bekannt, dass er beabsichtigt, auf seiner geldpolitischen Sitzung im Juli die Leitzinsen um 25 Basispunkte zu erhöhen. Laut offizieller Pressemitteilung beschloss er außerdem, „den Zinssatz für die Hauptrefinanzierungsgeschäfte sowie die Zinssätze für die Spitzenrefinanzierungsfazilität und die Einlagefazilität zunächst unverändert bei 0,00%, 0,25% bzw. – 0,50% zu belassen“. Ab September sollen „schrittweise, aber nachhaltig“ weitere Anhebungen erfolgen.
Viele Finanzexpert:innen hatten im Vorfeld angesichts der steigenden Inflation die zurückhaltende Zinspolitik der EZB kritisiert und die Anhebung der Leitzinsen gefordert. EZB-Chefin Christine Lagarde hatte im Mai deutlich gemacht, dass eine Zinswende erst dann umgesetzt werden könne, wenn das Ende der Anleihekäufe in Sicht sei. Seit 2015 hatte die EZB in großem Umfang öffentliche und Unternehmensanleihen gekauft, um damit die schwächelnde Wirtschaft mit beträchtlichen Summen zu unterstützen, und hat somit die Inflation in Krisenzeiten angetrieben. Nun wird eine Kehrtwende eingeleitet. Doch wie helfen höhere Zinsen gegen Inflation?
Inflation entsteht, wenn die Nachfrage größer ist als das Angebot. Da die höhere Nachfrage nicht gedeckt werden kann, sind Preissteigerungen oftmals die Folge, die wiederum die Nachfrage reduzieren. Daraus resultiert ein neues Gleichgewicht auf dem höheren Preisniveau. Ein weiteres Instrument, um die Nachfrage abzuschwächen, ist die Anhebung von Zinsen. Aufgrund gestiegener Finanzierungskosten werden potenziell weniger kreditfinanzierte Anschaffungen getätigt und die Sparquote steigt, da Anleger:innen wieder Zinsen für ihr Geld erhalten. In Folge wird die Angebotsseite dazu veranlasst, die Preise nach unten zu korrigieren und den entstandenen Angebotsüberhang auszugleichen.
Nicht nur Verbraucher:innen sind von den gestiegenen Finanzierungskosten betroffen, auch Unternehmen tätigen weniger Investitionen. Als Folge der reduzierten Geschäftstätigkeit sinkt der Bedarf an Arbeitskräften und weniger Lohnerhöhungen werden durchgesetzt. Neben den gestiegenen Finanzierungskosten wirkt sich also auch das gesunkene Einkommensniveau hemmend auf die Nachfrageseite aus. Dies führt zu einer Unterbrechung der sogenannten Lohn-Preis-Spirale, die besagt, dass steigende Löhne zu einer Erhöhung des Preisniveaus führen.
Tatsächlich ist die Ausgangslage im Euroraum derzeit jedoch eine andere. Die hohen Preise sind nicht aufgrund einer hohen Nachfrage entstanden, sondern sie sind die Folge der Verknappung von Angeboten aufgrund der Covid-Pandemie und des damit einhergehenden Lockdowns sowie des Ukraine-Krieges. Die Frage ist, ob die geplanten Leitzinserhöhungen der EZB den gewünschten Einfluss auf diese Entwicklungen nehmen werden. Zinserhöhungen können Angebot und Nachfrage wieder etwas ins Gleichgewicht bringen. Der Effekt auf die Preise hängt jedoch davon ab, wie groß der Spielraum im Bereich des Angebots ist. Dieser ist aufgrund der derzeitigen Situation aber eher gering: Energierohstoffe sind Mangelware, hinzu kommen Probleme in den Lieferketten, die seit der Pandemie ein ungeahntes Ausmaß angenommen haben. Die Produktivität ist stark eingeschränkt. All dies führt zu einer Teuerung in Deutschland in Form von gestiegenen Heizöl-, Kraftstoff-, Erdgas- sowie Nahrungsmittelpreisen. Die EZB kann mit ihren Entscheidungen ein Zeichen setzen, dass sie die aktuelle Situation ernst nimmt und mit einer Zinserhöhung gegensteuert. Sie steht vor der schwierigen Entscheidung, das richtige Maß zu finden. Der Markt hat hohe Erwartungen an die Zinserhöhungen der EZB und sieht sie bei 150 Basispunkten bis Jahresende. Die bisherige Erhöhung um 25 Basispunkte ist deshalb eher als symbolisch zu betrachten. Die Rekordinflation, die inzwischen gut viermal so hoch ist wie das Inflationsziel der EZB, ist ein gutes Argument dafür, den Leitzins spürbar anzuheben. Andererseits gilt es, das erhebliche Rezessionsrisiko innerhalb der ohnehin schwächelnden europäischen Volkswirtschaften nicht weiter anzufachen. Die Maßnahmen der Notenbank haben einen unmittelbaren Einfluss darauf, ob uns als mögliche Konsequenz eine Stagflation erwartet – eine anhaltende konjunkturelle Schwäche bei gleichzeitig steigenden Preisen.
Wirft man einen Blick in die Welt, so stellt man fest, dass sich auch viele andere Zentralbanken mit teils starken Zinserhöhungen und weiteren Maßnahmen gegen die zu hohe Inflation stemmen. Bereits über 50 Währungsbehörden haben die Zinsen um 50 oder mehr Punkte angehoben. Die amerikanische Federal Reserve (kurz Fed) ist die mächtigste Notenbank der Welt. Was sie entscheidet, beeinflusst das weltweite Finanzsystem. An ihr orientieren sich andere Zentralbanken. Im Zuge der Bekämpfung der hohen Inflation in den USA (im Mai 2022 + 8,6 % gegenüber dem Vorjahresmonat) hat die Fed bereits im März ihren Schlüsselsatz um 25, im Mai um 50 und im Juni um 75 Basisunkte angehoben. Im Zuge der Reduzierung ihrer Bilanz wird die Fed auslaufende Anleihen nicht mehr nachkaufen und entzieht den Märkten somit in erheblichem Umfang Liquidität. Dies hat in etwa denselben Effekt wie signifikante Zinserhöhungen und ist daher ein mächtiges Instrument zur Bekämpfung der Inflation. Wenn die Fed die Zinsen anhebt, hat das auch Einfluss auf Deutschland und Europa. Anleger:innen verlagern ihr Kapital, wenn sie auf amerikanische Anleihen wesentlich mehr Zinsen bekommen. Es wandert aus den hiesigen Märkten hinaus in den amerikanischen Markt. Die Folge sind Zinssteigerungen in Bundesanleihenmärkten, weil Investor:innen auch im eigenen Land mehr Rendite verlangen.
Die kommenden Monate werden zeigen, wie sich die erste Zinserhöhung und ggf. folgende Erhöhungen der EZB auf die hohe Inflation, Märkte und Preise auswirken werden. Der anhaltende Krieg in der Ukraine lässt kaum auf Besserung hoffen. Und welche Konsequenzen die Pandemie im Herbst mit sich bringen wird, ist ein weiteres großes Fragezeichen. Wir werden uns also noch für einige Zeit auf die hohe Volatilität der Märkte einstellen müssen.