29 Juli 2025

Serendipität: Wenn der Zufall plötzlich Sinn ergibt

Christof Neumann
Vordenker

Was haben ein geschmolzener Schokoriegel, ein ungenügend haftender Klebstoff und ein altes Märchen aus Sri Lanka gemeinsam? Sie alle stehen für ein Phänomen namens Serendipität und beschreiben eine Situation, in der man auf etwas völlig Unterwartetes trifft und darin etwas Positives entdeckt. Wie man das Glück im Zufall finden kann, wie es für jeden eine Bereicherung sein und sogar in der Vermögensverwaltung eine Rolle spielen kann.

Meine Frau arbeitet als Personalreferentin und ist für die Entwicklung von Führungskräften zuständig. Vor einiger Zeit las sie ein Buch über ein Phänomen, von dem ich noch nie zuvor gehört hatte: „Serendipität“. Dass ich den Begriff nicht kannte (und ihn mir anfangs auch nicht merken konnte,) weckte meine Neugier. Zumal für meine Frau Serendipität auch für ihre Arbeit hilfreich ist.
Sofort musste ich an unsere Denkfabrik denken. Zwar beschäftigen wir uns in der Denkfabrik in aller Regel mit Zukunftstechnologien wie Künstlicher Intelligenz, Blockchain oder kommerzieller Raumfahrt. Ein Ursprungsgedanke war aber immer auch, über den Tellerrand hinauszuschauen und gesellschaftliche Themen anzusprechen, die einen Transfernutzen für unsere tägliche Arbeit in der Vermögensverwaltung versprechen. Doch was ist nun Serendipität? Ganz allgemein geht es um überraschende Entdeckungen wichtiger Dinge, die wir in dem Moment eigentlich gar nicht suchen und die praktisch dem Zufall geschuldet sind. Ein spannendes und interessantes Thema also. Voller Elan begann ich, mich in das Thema zu vertiefen und mir Gedanken für das nächste Denkfabrik-Meeting zu machen. Aber wie es halt in der Realität immer so ist: In den Tagen darauf häuften sich andere, zeitkritische Themen an, und so rutschte mein guter Vorsatz auf der Prioritätenliste immer weiter nach hinten.

Zwei Tage vor dem geplanten Denkfabrik-Meeting hatte ich meinen Beitrag bereits von der Tagesordnung gestrichen: Zu wenig Vorbereitungszeit und vermutlich doch zu unwichtig. Zu diesem Zeitpunkt waren wir für ein Wochenende in Brügge, gedankenverloren schlenderten wir über einen kleinen Flohmarkt und kamen an einem Stand mit alten Büchern vorbei. Und da traf es mich wie der Blitz: Ein Buch mit dem niederländischen Originaltitel „Serendipiteit“.

Dem Glück auf die Sprünge helfen

Wie konnte das sein? Wer hatte das Buch mit dem blauen Einband und der orangefarbenen Schrift an diesem bestimmten Tag für mich ausgelegt? Einen Moment später wurde mir klar: Ich muss diesen Vortrag unbedingt halten! Auf der Zugfahrt zurück nach München brachte ich meine Gedanken zu Ende und hielt am nächsten Tag ein kleines Referat zum Thema Serendipität, sehr zur Freude meiner Kolleginnen und Kollegen.
Serendipität setzt also immer auch Eigeninitiative voraus und beschreibt dementsprechend kein Ereignis, sondern die Fähigkeit, Zufälle bewusst wahrzunehmen und aktiv etwas Positives daraus etwas zu machen.

Anhand dreier klassischer Beispiele lässt sich dies veranschaulichen:
1. Die Entdeckung von Penicillin durch einen zufälligen Laborfehler
Der Arzt Alexander Fleming entdeckte im Jahr 1928 das erste Antibiotikum, als er bemerkte, dass Schimmel Bakterien in einer versehentlich verunreinigten Petrischale abtötete.

2. Die Erfindung der Mikrowelle durch ein alltägliches Missgeschick
Percy Spencer erkannte die Erwärmung durch Mikrowellenstrahlung, nachdem ein Schokoriegel in seiner Tasche schmolz, als er neben einem Radargerät stand.

3. Die Entwicklung der Post-its aufgrund eines vermeintlichen Fehlschlags

Ein Wissenschaftler wollte einen superstarken Kleber entwickeln, erfand stattdessen versehentlich einen schwachen, wiederablösbaren Klebstoff, der später zur Basis der Post-its wurde.
Doch woher kommt eigentlich der Begriff „Serendipität“? Erstmals verwendet wurde der Begriff im Jahre 1754 in einem Brief des englischen Schriftstellers Horace Walpole an einen Freund. Darin benutzte er das Wort zum Ausdruck der Freude über einen glücklichen Zufall, weil ihm kein Besseres dafür einfiel. Er bezog sich dabei auf ein altes, persisches Märchen mit dem Titel „Die Prinzen aus Serendip“, wobei Serendip ein alter Name für das heutige Sri Lanka ist. Die drei Prinzen werden im Märchen von ihrem Vater auf eine Reise geschickt und machen – ganz im Gegensatz zu ihren unachtsamen Begleitern – allerlei überraschende Entdeckungen.
Ziel meines Vortrags war, neben der allgemeinen und historischen Darstellung auch darauf einzugehen, wie wir im Arbeitsalltag dem Zufall etwas Positives abgewinnen können. Manchen von uns fällt es ohnehin leicht, Neues zu wagen, alternative Lösungswege nach vermeintlichen Fehlern zu suchen oder wertvolle Kontakte zu knüpfen. Sie sind klar im Vorteil beim Erkennen zufälliger Gegebenheiten. Anderen hingegen fällt dies deutlich schwerer. Die gute Nachricht lautet aber: Wir alle können lernen, dem Zufall auf die Sprünge zu helfen!

Zufälle lassen sich (nicht) planen

Zufälle lassen sich zwar nicht planen – aber wir können Rahmenbedingungen schaffen, in denen sie wahrscheinlicher werden. Die Hakenstrategie zum Beispiel ist ein Gesprächsansatz, bei dem man gezielt persönliche Informationen oder Interessen preisgibt, um dem Gegenüber Anknüpfungspunkte zu bieten – mit dem Ziel, spontane Gemeinsamkeiten zu entdecken und damit eine unerwartete Gesprächsdynamik auszulösen. Umgekehrt kann man selbst fokussiert nach Verknüpfungspunkten suchen, um sich intensiver in ein Gespräch einzuklinken. Eine weitere Strategie besteht darin, alltägliche Gewohnheiten bewusst zu durchbrechen – zum Beispiel, indem ich einen anderen Weg zur Arbeit wähle. So öffne ich mich für neue Eindrücke. Neue Gesichter, andere Stadtviertel oder unbekannte Schaufenster können jederzeit zu unerwarteten Erkenntnissen führen.
Und was können Firmen und Führungskräfte für ihre Mitarbeiter tun? Sie können Freiräume zulassen – wie z. B. unsere Denkfabrik -, den Austausch zwischen Kolleginnen und Kollegen fördern, die sonst selten miteinander in Kontakt kommen, und sich bewusst Zeit nehmen, um die individuellen Stärken ihrer Mitarbeiter zu erkennen und zu fördern – idealerweise in einer entspannten Atmosphäre.
Serendipität zeigt uns, wie wertvoll unerwartete Entdeckungen und Zufälle sein können – vorausgesetzt, wir sind offen und aufmerksam genug, sie zu erkennen und aktiv zu nutzen. Mit gezielten Strategien wie bewusster Gesprächsführung oder dem bewussten Verlassen von Routinen können wir die Wahrscheinlichkeit solcher „glücklichen Zufälle“ erhöhen. Unternehmen und Führungskräfte sollten diese Haltung fördern, indem sie Freiräume schaffen und den Austausch unter Mitarbeitern stärken. So oder so ähnlich wurde schon so mancher Prozess ganz nebenbei optimiert, so manches Netzwerk aufgebaut, so mancher Neukunde gewonnen oder eine vielversprechende Investmentidee entdeckt.